Sind „Zumutungen“ mehrheitsfähig? Die Vorbereitungen zur nächsten Bundestagswahl sind in vollem Gang. Alle Parteien befragen Fachleute, bilden kleine und große Arbeitsgruppen und Kommissionen. Alle Parteien beauftragen auch Meinungsforschungsinstitute und laden Fokusgruppen ein, um Ideen und Argumente zu testen. Am Ende stehen Wahlprogramme, die – hoffentlich sachgerechte – Antworten auf Basis der Überzeugungen in der jeweiligen Partei geben. Es sind auch die Antworten, mit denen die Parteien hoffen, Zustimmung zu erhalten und die Zahl der Wähler zu vergrößern. Sachgerechtigkeit und Mehrheitsfähigkeit Es mag Zeiten geben, in denen die Ziele Sachgerechtigkeit und Mehrheitsfähigkeit identisch sind. Diese Zeiten sind das Schlaraffenland für Politiker und so selten, wie das Schlaraffenland für uns alle ist. Der aufgeklärte Wähler sollte wissen: Ein Wahlprogramm ist immer eine Abwägung zwischen der „idealen Lösung“ gut beratener Politiker und der Rücksichtnahme auf Stimmungen, Ängste und, gerade im Zeitalter der „Sozialen Medien“, sehr bedeutendes Verhetzungspotential. Deshalb muss deutlich sein, dass ein Programm von Optimismus geprägt wird. Die Lage in Deutschland und Europa macht diese Abwägung derzeit besonders schwierig. Das kann man am Verhalten der Parteien auch ablesen. Mit AfD und BSW gibt es zwei relevante Mitbewerber der traditionellen Parteien, die beachtlichen Erfolg damit haben, die Emotionen von Wählern, die mit grundlegenden politischen Entscheidungen unzufrieden sind, hinter sich zu versammeln. Jede – vermeintliche oder tatsächliche – angekündigte Zumutung einer Partei der demokratischen Mitte provoziert Wähler, ihre Stimme radikalen Parteien zu geben möglicherweise nicht wegen der Sache, sondern allein aus Protest. Sicherlich gehört auch zu dieser Erkenntnis, dass die Parteien der demokratischen Mitte lange auf wirklich intensive inhaltliche Diskussionen verzichtet haben. Das reicht vom „Basta-Kanzler“ Gerhard Schröder über die „Es gibt keine Alternative“-Kanzlerin Angela Merkel bis zum völlig verstummten Olaf Scholz. Der Markt ist der bessere, nicht der einfachere Weg Speziell für die Wirtschaftspolitik ist das Gift. Jede Wirtschaftsordnung, in der Marktkräfte den Einsatz der Produktionsfaktoren bestimmen (im Gegensatz zu staatlich gelenkten Ordnungen), steckt voller Unsicherheiten. Wir erleben derzeit, was passiert, wenn inhaltliche Diskussionen nicht stattfinden und eine Regierung glaubt, die Zukunft zu kennen und in Wärmepumpen und Elektrizität die einzig „richtige“ Lösung sieht. Der Weg von fossilem Gas zu Wasserstoff, weitere sparsame CO2-Produktionen kombiniert mit der industriellen Nutzung von abgesonderten CO2, die Speicherung von CO2, neue Kraftstoffe und günstigere Alternativen zur kostspieligen Dämmung unserer Gebäude das alles kommt dann in der Staatsplanung nicht mehr vor – von Kernenergie oder Kernfusion zur Energiegewinnung ganz zu schweigen. Der dringend notwendige Wettbewerb um die beste Lösung ist selten schmerzfrei. Wettbewerb funktioniert nur mit ehrlichen Preisen. Der erste Schritt Richtung Markt bedeutet immer Unbequemlichkeit und wachsende Belastungen, denn nur dann springt der Wettbewerb um bessere und kostengünstigere Ideen an. Zugleich verlangt dieser Weg Vertrauen in die Erfolgsgeschichte unserer Sozialen Marktwirtschaft, denn eine freiheitliche Ordnung ist ein Weg und kein fester Plan. Dieser, mit dem sogenannten „Wirtschaftswunder“ in den Zeiten von Ludwig Erhard verknüpfte Weg kommt in den oben erwähnten Meinungsumfragen und Fokusgruppen aber nicht so gut an. Die Bürger wollen keine Änderung, den meisten geht es grundsätzlich gut, aber sie fühlen sich maximal belastet und lehnen höhere Kosten ab. Und sie erwarten von den Politikern einen genauen Plan, der alle Probleme löst, ohne dass sich für den einzelnen Bürger etwas ändert. Wohlstand erhalten ohne Veränderung ist unmöglich Das ist keine gemütliche Ausgangsbasis zum Entwickeln von Zukunftsideen für ein Wahlprogramm. Wohlstand für alle ist auch in Zukunft möglich, aber Wohlstandserhalt ohne Veränderung ist nicht realistisch., In unserer Lage – mit einer alternden Bevölkerung, einem sich intensivierenden internationalen Wettbewerb und der zurückgekehrten Notwendigkeit, die Freiheit notfalls mit Waffen verteidigen zu müssen – ist jedes Jahr ohne Veränderung ein schmerzhafter Rückschritt. Die Folgen diverser Rückschritte kommen gerade bei uns an: Wir verlieren Wettbewerbsfähigkeit. Unsere Infrastruktur ist marode. Wir haben Angst vor der Verwendung unserer Daten – und fürchten nahezu jede weitere Innovation. Wahrscheinlich ist die „Verlustangst“ für die Betrachtung dieses gefährlichen Zustandes von großer Bedeutung. So lesen auch die Autoren der Parteiprogramme in diesen Tagen, dass 84 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage (Demokratievertrauen in Krisenzeiten, Friedrich-Ebert-Stiftung) pessimistisch in die Zukunft blicken. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Der Soziologe Andreas Reckwitz, der gerade mit seinem Buch „Verlust“ dieses Phänomen in den Mittelpunkt rückt, sagt dazu: „Das ist ein dramatischer Befund, und er gilt seit Jahren nicht nur für Deutschland, sondern für viele westliche Gesellschaften. Er zeigt, dass sich die Fortschrittserwartung massiv eingetrübt hat. Die Tendenz geht nun in Richtung dessen, was man Zukunftsverlust nennen kann. Zukunft wird für die Gesellschaften nicht mehr als ein Raum der offenen Möglichkeiten wahrgenommen.“ Vereinfacht gesagt: Je mehr die Politik auf diese Verlustängste Rücksicht nimmt, umso mehr Verluste werden real. Das führt zu einer der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts: Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Risiken und Verlusten auseinandersetzen? Mit Risiken und Verlusten offen auseinandersetzen Die Gesellschaften –wir! – müssen es. Unsere Spitzenpolitiker müssen es. Man muss es in den Programmen lesen. Manche unserer Industrien werden an Bedeutung verlieren. Gerade die Automobilindustrie wird uns fordern. Subventionen verhindern da nur den notwendigen Wandel. Wer seinen Arbeitsplatz verliert, wird an anderer Stelle gesucht. Gerade wegen der Arbeitskräfte-Knappheit in einer alternden Gesellschaft werden wir alle eher mehr als weniger arbeiten müssen. Unsere Verteidigung wird Geld kosten und das wird Einschränkungen an anderer Stelle erfordern. Die Innovationen dieses Jahrhunderts, von Gentechnik bis zur Künstlicher Intelligenz, sind gerade für uns Deutsche Chance und kein Horror. Bleibt die Frage: Kann man mit solchen Thesen, die leidenschaftliche Unterstützung, aber auch leidenschaftlichen Widerspruch hervorrufen, Wahlen gewinnen? Verantwortungsvolle Parteien und ihre Spitzen werden es tun müssen. Sie stehen in der Tradition von Ludwig Erhard, der 1948 die Preisfreigabe eigenmächtig umsetzte. In der Tradition Konrad Adenauers, der Deutschland in der NATO und im freien Westen verankerte. Nicht zuletzt in der Tradition Helmut Kohls, der mit der Zustimmung zur Raketenstationierung in der Bundesrepublik erfolgreich in den Wahlkampf zog. Bei allen führten die schwierigen Entscheidungen zum Erfolg bei den ins Auge gefassten Zielen. Die Parteiprogramme müssen daran gemessen werden, ob sie Mut und Ehrlichkeit verkörpern, um ihre Wähler auf dem schwierigen Weg mitzunehmen. Es geht um anstrengende Bergetappen, mit dem Ziel, allen wieder bessere Aussichten zu verschaffen. Ludwig Erhard nannte das zu Recht „Wohlstand für Alle“. Wir wissen, wie es gehen kann Die Lebensgeschichten der zitierten Kanzler zeigen, dass Offenheit und Entschlossenheit in der Wahlkabine belohnt werden. Die aktuellen Wahlumfragen zeigen nur die Herausforderungen; dann ist Klarheit anstatt Wegducken gefragt. Erst am Ende des Kampfes um die Ideen steht das Wahlergebnis. Ohne diese klare Haltung werden Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand nicht zu erreichen sein. |